Berliner Morgenpost: Es steht viel auf dem Spiel – Leitartikel von Michael Backfisch zur Wahl in der Türkei

Selten gab es eine Wahl, bei der für Europa und Deutschland so viel auf dem Spiel stand.

Wenn die Türken an diesem Sonntag wählen, geht es nicht nur um einen neuen Präsidenten und ein neues Parlament. Im Duell Recep Tayyip Erdogan gegen seinen Herausforderer Kemal Kilicdaroglu prallen zwei völlig verschiedene Politikstile und Konzepte aufeinander.

Erdogan steht für Protz und Prunk, Kilicdaroglu für Bescheidenheit und Demut.

Gewinnt Erdogan, dürfte sich die Türkei von einer Autokratie zur lupenreinen Diktatur entwickeln. Noch mehr Oppositionelle und Intellektuelle werden im Gefängnis landen. Die Institutionen und Gerichte des Landes tanzen dann endgültig nach der Pfeife des Sultans von Ankara.

In der Nato ist der Türke bereits ein unsicherer Kantonist. Er blockiert und verzögert den Beitritt Schwedens zum Bündnis, um die Auslieferung unliebsamer Regimekritiker zu erzwingen. Derlei Pressionsversuche gehören zu seinem Repertoire – weitere sind zu erwarten. Dabei schreckt Erdogan auch vor Tabubrüchen wie dem Einkauf russischer Luftabwehrsysteme vom Typ S-400 nicht zurück. Sehr zum Verdruss der Amerikaner, die deshalb die Lieferung hochmoderner F-35-Kampfjets auf Eis legen. Erdogan verletzt mit seinen willkürlichen Einzelaktionen das Prinzip der Verlässlichkeit, dem wichtigsten Kitt in der Allianz.

Ein wiedergewählter Staatschef Erdogan würde in der Flüchtlingsfrage weiter Schicksal mit der EU spielen. Knapp vier Millionen Migranten hat die Türkei aufgenommen – auch ein Ergebnis des im März 2016 geschlossenen Deals mit der EU. Wann immer es Erdogan passt, wird er Brüssel drohen: „Wir öffnen die Tore.“ Ein knallharter Machtpolitiker wie er weiß, dass Europa angesichts wieder ansteigender Flüchtlingszahlen noch anfälliger ist.

Macht Kilicdaroglu das Rennen, würden in der Türkei wieder demokratische Umgangsformen einziehen.Der Oppositionskandidat hat versprochen, das autokratische Präsidialsystem Erdogans abzuwickeln. Der Ministerpräsident soll künftig vom Parlament gewählt und nicht wie bisher vom Quasi-Monarchen ernannt werden. Kritische Journalisten wie der im Berliner Exil lebende Can Dündar dürften dann wieder ohne Angst vor Verhaftung nach Hause reisen können.

Kilicdaroglu steht für eine Annäherung an Europa und den Westen. Erdogans Vogel-friss-oder-stirb-Politik wäre zu Ende. Die Nato-Aufnahme Schwedens will der 74-Jährige sofort besiegeln. In die eingefrorenen EU-Beitrittsverhandlungen möchte er neue Bewegung bringen. Hier sind keine Hauruck-Lösungen zu erwarten. Aber von einer Vertiefung der Zollunion würden beide Seiten profitieren.

Problematisch für die EU ist Kilicdaroglus Ankündigung, die 3,5 Millionen syrischen Flüchtlinge binnen zwei Jahren in ihre Heimat zurückzuschicken.

Ein Teil der Migranten dürfte sich mangels wirtschaftlicher und politischer Perspektiven auf den Weg in EU-Länder machen. Für Brüssel wäre es klug, mit einem Präsidenten Kilicdaroglu über visafreies Reisen türkischer Staatsbürger nach Europa zu verhandeln – als Gegenleistung für ein neues Flüchtlingspaket. Dennoch würden auch mit Kilicdaroglu die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Der Anwärter auf das höchste Amt wird von einem zerbrechlichen Sechsparteienbündnis in die Wahl getragen. Dieses hat bislang die Forderung „Erdogan muss weg“ als kleinsten gemeinsamen Nenner. Am Tag eins nach Erdogan stünde Kilicdaroglu vor der Mammutaufgabe, eine stabile Koalition zu schmieden und das Land zu einen.

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Quelle: BERLINER MORGENPOST, Redaktion
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